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Was tun im Notfall?

Empfehlungen zur Notfall- behandlung von Patienten mit einer Gerinnungsstörung

TRIAGE

Im Rahmen einer Notfallbehandlung müssen Personen mit einer Blutgerinnungsstörung sofort einer Triage unterzogen werden, da Verzögerungen bei der Verabreichung einer geeigneten Therapie, wie der Infusion von Faktorkonzentrat, die Morbidität und Mortalität erheblich beeinflussen können.

Die Verabreichung eines Gerinnungsfaktors an den Patienten sollte sofort, vor einer Konsultation, erfolgen. Es wird dringend empfohlen, den behandelnden Hämostaseologen oder die Hämostaseologin des Patienten umgehend zu konsultieren. Ist dies nicht möglich, wird eine Konsultation mit dem nächstgelegenen Hämophilie-Behandlungszentrum empfohlen.

BEWERTUNG

Die Behandlung einer vermuteten Blutungsepisode basiert auf der klinischen Anamnese. Die Befunde der körperlichen Untersuchung können aber in den frühen Phasen der meisten Blutungsepisoden bei einer Blutungsstörung normal sein. Spontane Blutungen treten bei Patienten mit schwerer Erkrankung häufig auf (Basiswert des Faktors < 1 %). Im Zweifelsfall sollte daher sofort eine Therapie durch Gabe des entsprechend fehlenden Gerinnungsfaktors erfolgen.

Behandlungsentscheidungen sollten auf dem Verdacht einer Blutung beruhen, nicht auf der Dokumentation einer solchen.

Wenn der Patient oder der Elternteil eines Patienten vermutet, dass eine okkulte Blutung auftritt, sollte immer zuerst der Gerinnungsfaktor verabreicht werden. Die Patienten haben oft die von der behandelnden Hämostaseologin bzw. dem Hämostaseologen empfohlenen Dosierungsrichtlinien für den Faktorersatz bei sich.

DIAGNOSTIK

Leidet ein Hämophiliepatient an einer akuten Erkrankung oder Störung, die einen invasiven Eingriff (Lumbalpunktion, Bestimmung der arteriellen Blutgase, Arthrozentese etc.) oder eine Operation erforderlich macht, muss vor dem geplanten Eingriff eine Faktor-Substitution auf 100 % des normalen Faktors oder eine Bypasstherapie durchgeführt werden. In einer solchen Situation wird dringend empfohlen, eine Hämostaseologin oder einen Hämostaseologen zu konsultieren.

Nach Gabe des Faktors und in Absprache mit dem Kollegen oder der Kollegin sollte der Faktorspiegel regelmäßig bestimmt werden. Eine Behandlung sollte jedoch nicht verzögert werden, indem auf Testergebnisse gewartet wird, da dies oft mehrere Stunden dauern kann. Routinemäßige Laboruntersuchungen (PT, aPTT, Faktorspiegel) sind vor der Behandlung einer unkomplizierten Blutung nicht zwingend indiziert, es sei denn, die Hämostaseologin oder der Hämostaseologe des Patienten
verlangt dies. Ergebnisse der Screening-Assays wie die aPTT- und Faktor-Aktivitäts-Assays sind abhängig vom Produkt, das der Patient verwendet. Mit der Hämostaseologin bzw. dem Hämostaseologen sollte besprochen werden, welcher Test zur Bestimmung des Gerinnungsfaktors durchgeführt werden muss.

Sollte der Patient auf Hemlibra® (Emicizumab) eingestellt sein, so ist Vorsicht geboten, wenn Labortests, die auf intrinsischer Gerinnung basieren, angewendet werden. Eine falsche Interpretation der Ergebnisse kann zu einer nicht ausreichenden Behandlung von Patienten mit Blutungsereignissen führen und potenziell schwere oder lebensbedrohliche Blutungen nach
sich ziehen (2). Der klinische Schweregrad der Hämophilie eines Patienten wird anhand seines Gerinnungsfaktor-Basiswertes bestimmt, einem Wert, der während des gesamten Lebens dieser Person ziemlich konstant bleibt.

INDIKATIONEN FÜR EINE GABE VON GERINNUNGSFAKTOREN SIND:

  • Verdacht auf Blutung in ein Gelenk oder einen Muskel.
  • Jede bedeutende Verletzung an Kopf, Hals, Mund, Ohren oder Augen oder Anzeichen von Blutungen in diesen Bereichen.
  • Alle neuen oder ungewöhnlichen Kopfschmerzen, insbesondere nach einem Trauma.
  • Starke Schmerzen oder Schwellungen an jeder Stelle des Körpers.
  • Alle offenen Wunden, die einen chirurgischen Verschluss, Wundkleber oder Steri-Strips erfordern.
  • Vorgeschichte eines Unfalls oder Traumas, das zu inneren Blutungen führen könnte.
  • Jedes invasive Verfahren oder Operation.
  • Starke oder anhaltende Blutungen an einer beliebigen Stelle.
  • Magen-Darm-Blutungen.
  • Akute Frakturen, Luxationen und Verstauchungen.
  • Starke Menstruationsblutungen, die zu mäßiger bis schwerer Anämie oder Volumeninstabilität führen.

Behandlung*

HÄMOPHILIE A OHNE HEMMKÖRPERBILDUNG (INHIBITOR)

Die Behandlung der Wahl für Personen mit Hämophilie A (Faktor VIII-Mangel) ist die Gabe von Faktor VIII.

Bei schweren Blutungen beträgt die geeignete Faktor VIII-Dosis 50–80 Einheiten/kg bei Erwachsenen und
80–100 Einheiten/kg bei Kindern. Dies sollte zu einem Faktor VIII-Spiegel von 80–100 % führen (3).

Bei Patienten mit Hämophilie A, die eine Prophylaxe mit Hemlibra® erhalten und akute Blutungen aufweisen,
sollte Faktor VIII in gleicher Weise dosiert wie oben verabreicht werden. Während Hemlibra® bei der Prophylaxe
von Blutungen wirksam ist, ist es zur Behandlung akuter Blutungsereignisse nicht geeignet. Bei Patienten,
die Hemlibra® erhalten, wird keine Anpassung (Reduktion) der Faktor VIII-Dosis empfohlen.

HÄMOPHILIE B OHNE INHIBITOR

Die Behandlung der Wahl für Personen mit Hämophilie B (Faktor IX-Mangel) ist die Gabe von Faktor IX.
Bei schweren Blutungen beträgt die geeignete Faktor IX-Dosis 50–80 Einheiten/kg bei Erwachsenen
und 80–100 Einheiten/kg bei Kindern (3).

HÄMOPHILIE A ODER B MIT INHIBITOR

Bei Personen mit Inhibitoren (Antikörper gegen Faktor VIII oder IX) können Behandlungsentscheidungen
kompliziert sein.

Die Versorgung von Inhibitorpatienten sollte unbedingt mit dem Hämostaseologen oder der Hämostaseologin des Patienten besprochen werden. Wenn sich ein Patient mit einem Inhibitor in einer lebensbedrohenden Situation befindet, sollte rekombinanter Faktor VIIa als mittlere initiale Dosis 90 μg/kg KG oder 270 μg/kg KG als Einzelgabe verabreicht werden.
Bei gleichzeitiger Hemlibra® Therapie sollten 90 μg Faktor VIIa je kg KG verabreicht werden (3). Alternativ kann aktiviertes Prothrombinkomplex-Konzentrat, FEIBA® (aPCC) als Initialdosis bis 100 Einheiten/kg KG und einer Erhaltungsdosis von 50 bis 100 Einheiten/kg KG täglich (Tageshöchstdosis: 200 Einheiten/kg KG) gegeben werden (3). Für akute Blutungsereignisse oder Eingriffe bei Hämophilie A-Inhibitor-Patienten unter Hemlibra®-Prophylaxe wird rFVIIa gegenüber FEIBA® bevorzugt empfohlen, da aPCCs bei Patienten, die Hemlibra® erhalten, Thrombosen oder thrombotische Mikroangiopathien verur-
sachen können.

Bei Faktor IX-Patienten mit einer Vorgeschichte von Inhibitoren und Anaphylaxie sollten Faktor IX-haltige Produkte, einschließlich FEIBA®, nicht angewendet werden.

ZUSÄTZLICHE HINWEISE ZUR BEHANDLUNG

Wenn ein Patient mit einer Hämophilie oder einer anderen Blutgerinnungsstörung oder der Elternteil eines Patienten Gerinnungsfaktorkonzentrate mit in die Notaufnahme bringt, erlauben Sie ihnen, diese zu verwenden. Diese Empfehlung beruht auf der Tatsache, dass viele Notaufnahmen keine Gerinnungsfaktoren auf Lager haben. Patienten oder Familienmitgliedern sollte gestattet werden, das Produkt aufzulösen und gegebenenfalls selbst zu verabreichen. Wenn der Patient kein eigenes Gerinnungsfaktorkonzentrat mitbringt, muss die Notaufnahme dieses sofort bestellen und verabreichen.

Die Gerinnungsfaktoren müssen im Bolus langsam i. v. injiziert werden.

Der gesamte Inhalt jeder rekonstituierten Durchstechflasche sollte infundiert werden, da ein mäßiger Überschuss an Faktorkonzentrat keinen hyperkoagulierten Zustand erzeugt, sondern die therapeutische Konzentration des Faktors erhöht. Daher ist es ratsam, bei der Berechnung der Dosierung „aufzurunden“.

Eine erfahrene Ärztin oder ein Arzt sollte die Venenpunktionen durchführen. Traumatische Venenpunktionen und wiederholte Nadelstiche verursachen schmerzhafte Hämatome, die den weiteren i.v. Zugang einschränken können. In jedem Notfall mit dem Verdacht auf eine Blutung, sollte der Faktorspiegel mit 0 % angenommen werden.

Intramuskuläre Injektionen, einschließlich Impfungen, sollten nach Möglichkeit vermieden werden. Wenn sie gegeben werden müssen, muss der Injektion eine Faktoren-Gabe vorausgehen.

Tourniquets sollten nicht zu eng an den Extremitäten angelegt werden, da sie Blutungen verursachen können.

Aspirin und aspirinhaltige Produkte sollten bei Personen mit Hämophilie vermieden werden, es sei denn, es besteht eine kardiale Indikation und dann nur unter genauer Beobachtung, z. B. Überwachung und regelmäßiger Kontrolle des Hämoglobinspiegels zum Ausschluss einer chronischen gastro-intestinalen Blutung. Zur Analgesie können Acetaminophen und/oder orale Opioide verwendet werden. Nichtsteroidale Antirheumatika (NSAID) können bei Personen mit chronischen arthritischen Schmerzen, die nicht aktiv bluten oder wegen eines kürzlich aufgetretenen Blutungsproblems behandelt
werden, verabreicht werden.

Wenn ein Patient mit einer Hämophilie blutet und zur endgültigen Versorgung in eine andere Behandlungseinrichtung transportiert werden muss, sollte immer vor dem Transport der fehlende Gerinnungsfaktor verabreicht werden.

*Bemerkung: Die angegebenen Dosierungen beruhen auf den Querschnittsleitlinien und sollten von der behandelnden Ärztin bzw. dem Arzt überprüft werden.

Ceckliste für Patienten und Ersthelfer Notfallverhalten bei Hämophilie

Als Mensch mit Hämophilie wissen Sie: Im Notfall muss es blitzschnell gehen. Mit Unterstützung unseres wissenschaftlichen Beirats haben wir deshalb diese Checkliste für Sie erstellt. Sie enthält Empfehlungen, was Sie selber oder andere Ersthelfer im Notfall tun sollten. Unser Tipp: Tragen Sie diese Checkliste immer bei sich, möglichst zusammen mit Ihrem Hämophilie-Ausweis.

Was ist ein Notfall?

  • Bewusstlosigkeit
  • Starke Schmerzen im Kopf, Brustkorb bzw. Bauchraum
  • Stumpfe Gewalt auf den Körper
  • Verkehrsunfall
  • Schnittverletzung mit großem Blutverlust
  • Starke Schwellung von Weichteilen, Muskeln bzw. Gelenken

Verhalten im Notfall

  1. Zuerst immer Faktor-Medikament spritzen (Notfall-Dosis vorher mit Ihrem Hämophilie-Arzt/-Ärztin besprechen)
  2. Notdienst 112 anrufen: Auf Hämophilie (A oder B und Schweregrad) sowie auf nächstgelegenes Hämophiliezentrum hinweisen.
  3. Notarzt über Therapie und verordnetes Faktorpräparat informieren. Um Erstversorgung in der Klinik sicherzustellen, evt. vorhandenes Faktor-Medikament mitnehmen.
  4. Ihr Hämophiliezentrum anrufen (lassen) und um Kontaktaufnahme Ihres Arztes/ Ärztin mit dem Notarzt bzw. Krankenhaus/ Station/Abt. bitten.
  5. Angehörige informieren.
  6. Bei Verlegung in ein Krankenhaus ohne Gerinnungsambulanz: Immer Hämophilie-Arzt/Ärztin informieren und weitere Schritte absprechen. Sehr sinnvoll ist ein detaillierter Therapieplan mit Hinweisen über einzusetzende Tests zur Bestimmung des Faktorspiegels.

Anschriften der Hämophiliezentren

Deutschland:
www.igh.info/haemophiliezentren
www.dhg.de/haemophiliezentren.html

International:
www.wfh.org/en/resources-education/treatment-centre-directory

HINWEIS: Alle Angaben sind als Basisinformation zum aktuellen Sachstand zu verstehen. Es besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit.

Was Sie als Hämophiliepatient immer bei sich führen sollten!

  • Hämophilie-Ausweis
  • Faktor-Medikament zur Erstbehandlung
  • Tel.-Nr. Ihres Hämophiliezentrums:
  • Bei kleinen Zentren immer zusätzlich die Tel.-Nr. vom 24/7-Dienst des nächsten Gerinnungszentrums
  • Ggf. private Tel.-Nr. des/der behandelnden Arztes/Ärztin
  • O.g. Nummern sollten auch den Angehörigen des Patienten bekannt sein
  • Bei Reisen die Tel.-Nr. und Anschrift des nächsten Hämophiliezentrums